Samstag, 20. Mai 2023

 

Joseph Ratzinger: Gelehrter von Rang und mächtiger Weichensteller in der römisch-katholischen Kirche

Porträt des am 31. Dezember 2022 verstorbenen Papst Benedikt XVI.

I. VOM CHIEMGAUER DORFBUB ZUM PAPA EMERITUS IN ROM

Im Alter von 43 Jahren gab Joseph Ratzinger am 11. Juli 1920 im Altöttinger Liebfrauenboten eine Anzeige auf: „Mittlerer Staatsbeamter, ledig, katholisch … sucht sich mit einem gut katholischen, reinlichen Mädchen, das gut kochen und alle Hausarbeiten kann, … zu verehelichen.“ Auf diesem Weg lernte Gendarmeriemeister Ratzinger die 7Jahre jüngere Köchin Maria Peintner aus Rimsting kennen. Schon vier Monate später war Hochzeit, und es kamen 1921 Maria, drei Jahre später Georg und am 16. April 1927, dem Karsamstag, Joseph Alois, der zukünftige Papst, zur Welt.

Wie bereits die Namensgebung andeutet, war die Familie tief religiös und lebte mit und in dem Kirchenjahr. Die Ratzingers waren eine Familie auf Wanderschaft – so Kardinal Ratzinger in seinen Lebenserinnerungen -, und als Vater Ratzinger nach seiner Pensionierung ein Haus in Hufschlag bei Traunstein kaufte, war das bereits die vierte Adresse des 10-jährigen Sohnes Joseph. Dadurch, dass die Familie keine Wurzeln an einem bestimmten Lebensort schlug, wurde die Katholische Kirche umso mehr zum Kontinuitätsträger.

Diese Katholische Kirche galt es in den letzten Jahren der Weimarer Republik und dann ab 1933 gegen nationalsozialistische Gleichschaltungsbestrebungen zu verteidigen. Josephs Vater machte sich als Polizist und entschiedener Gegner der „Hakenkreuzler“ unbeliebt, und er selbst musste als Grundschüler miterleben, wie der Pfarrer, für den er ministrierte, von Braunhemden verprügelt wurde.

Im Alter von 12 Jahren folgte Joseph seinem Bruder Georg in das auf den Priesterberuf vorbereitende Studienseminar St. Michael in Traunstein. Hier entdeckte er die Welt der Bücher und erhielt den Spitznamen Bücher-Ratz. Aber die Zeiten erlaubten keine ruhige Entwicklung, und so musste Joseph mit 14 Jahren der Hitlerjugend beitreten. Als 17-jähriger Rekrut des Ausbildungsbattaillons 179 in Traunstein wurde er vom Leutnant nach seiner Berufsvorstellung gefragt. Seine Antwort „Priester“. Der überzeugte Nationalsozialist verlor die Contenance: „Da werden Sie sich um etwas anderes umsehen müssen! Priester werden in Zukunft nicht mehr gebraucht.“ (Predigt 1994) Hier liegt die Wurzel eines ihn lebenslang begleitenden Themas: Die Verteidigung der Katholischen Kirche und des Priestertums gegen eine verderbte und gottlose Welt.

Der Senkrechtstarter

Mit dem Ende der Nazi-Herrschaft begann eine steile theologische Karriere. Im Juli 1950 legte Joseph Ratzinger das theologische Examen in München ab und widmete sich anschließend sofort der jährlichen Preisaufgabe der theologischen Fakultät: „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“. Die Arbeit schloss er nach 9 Monaten mit Bravour ab, und der Lohn war die damit verbundene Promotion. Zwei Monate danach erfolgte am Peter- und Paulstag im Freisinger Dom die Priesterweihe. Nur ein Jahr später dozierte der intellektuelle Überflieger an der philosophisch-theologischen Hochschule Freising, wo er zum Wintersemester 1954 im Alter von 27 Jahren den Lehrstuhl für Dogmatik und Fundamentaltheologie übernahm. Dem 1957 habilitierten Professor wurde 1958 von der Universität Bonn seine Traumposition angeboten, und um seinen 32. Geburtstag herum nahm Joseph Ratzinger seine Arbeit als Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologe an der renommierten katholisch-theologischen Fakultät auf.

Dem Neuankömmling eilte ein Ruf als innovativer Denker voraus, was ihm einen großen Zulauf zu seinen Vorlesungen eintrug. Anfang 1959 kündigte Papst Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil an, und der Erzbischof von Köln war in dessen Vorbereitung involviert. Als seinen Berater erwählte sich Kardinal Frings den jungen Professor Ratzinger, der ihm dann während des Konzils (1962 – 65) zur Seite stand und einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Konzilstexte nahm. Dessen damalige progressive Denkungsart kommt gut in einer von ihm in dieser Phase formulierten Position zum Ausdruck: Die Kirche von morgen wird „als kleine Gemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspruchen. Sie wird auch gewiss neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen.“ (Glaube und Zukunft, 1970, 123)

Kipp-Punkt 1968

Während die 1968er Bewegung die Initialzündung für eine Aufbruchsdynamik in der bundesrepublikanischen Gesellschaft war, begab sich die Katholische Kirche mit der Enzyklika „Humanae vitae“ Papst Pauls VI. vom Juli 1968, die der Volksmund „Pillenenzyklika“ nannte, in eine Jahrzehnte währende lehramtliche Sackgasse. Das damalige Auseinanderdriften von Rom und Deutscher Katholischer Kirche – hier bestand man in Sachen Verhütung auf der persönlichen Gewissensentscheidung der Eheleute – war ein Widerstreit, der seinen Höhepunkt Ende der 90er Jahre mit dem von Rom geforderten Ausstieg aus der Schwangerenkonfliktberatung hatte und mit dem deutschen Synodalen Weg bis heute andauert. Zentraler Akteur des deutsch-römischen Tauziehens war der wirkmächtige spätere römisch-bayerische Glaubenspräfekt und dann ab 2005 deutsche Papst.

Nach den Professuren in Bonn und Münster (1963 - 66) folgte Joseph Ratzinger - auf das Betreiben seines ehemaligen Konzilskollegen und späteren theologischen Widersachers Hans Küng hin – einem Ruf in die theologische Hochburg Tübingen. Symptomatisch für die divergierenden Entwicklungswege von Küng und Ratzinger waren deren unterschiedliche Reaktionen auf die ab 1968 revoltierenden Studenten. Der forsche Hans Küng warf sich mit dem Grundgesetz in der Hand in die Debatte, derweil sein professoraler Kollege Ratzinger in höchstem Maße verschreckt reagierte. Sein Assistent Wolfgang Beinert berichtet, was er damals aus nächster Nähe mitverfolgte: „Ich habe die Wandlung von einem konservativen, gemäßigt liberalen Denker zu einem ganz ängstlichen und pessimistischen Mann erleben müssen.“ (Deutschlandfunk 2023) In vielen Büchern wird das als Folge eines Traumas verortet, aus meiner Sicht handelt es sich um eine Re-Traumatisierung, die mit Ratzingers tiefgreifenden Erlebnissen als Kind und Jugendlicher in der Nazi-Zeit in Verbindung steht. Er erlebte quasi zum zweiten Mal die Gefährdung seines katholisch-traditionalen Fundamentes durch eine innerweltliche Heilsideologie und floh in das - von studentischen Umtrieben verschonte - oberpfälzische Regensburg in die Nähe seiner Geschwister.

Vom Erzbischof zum Präfekten der Glaubenskongregation

Nach dem jähen Tod des Münchner Erzbischofs Julius Kardinal Döpfner im Juli 1976 ernannte Papst Paul VI. im Frühjahr darauf Joseph Ratzinger zu dessen Nachfolger. Der war mit Leib und Seele Professor, und es fiel ihm nicht leicht, dem ihm von Mutter Kirche auferlegten Dienst nachzukommen. Mit der Ernennung zum Kardinal nur drei Monate später signalisierte Rom, dass noch größere Aufgaben warteten. Der im Oktober 1978 zum Papst gewählte Karol Wojtyła hätte gerne von Beginn seines Pontifikates an Joseph Ratzinger an seiner Seite gehabt, musste sich aber gedulden, bis der Erzbischof von München und Freising Anfang 1982 an die Spitze der Glaubenskongregation wechselte.

Die Katholische Kirche hatte nun mit Johannes Paul II. und seinem Glaubenspräfekten ein langjähriges starkes Führungsduo, bei dem nicht zu Unrecht von einem „Doppelpontifikat“ die Rede war. Von ihrer Persönlichkeitsstruktur her war den beiden Männern tiefe Frömmigkeit gemeinsam, aber fatalerweise auch das Motiv des Abwehrkampfes gegen böse Außenmächte. Zu spüren bekamen das zuallererst die Befreiungstheologen Lateinamerikas, die im Verdacht einer zu großen Nähe zum Marxismus standen.

In seinen Lebenserinnerungen nahm Joseph Ratzinger daran Anstoß, dass - aufgrund der vom II. Vatikanum ausgelösten Reformen - die Gläubigen nun alles in der Kirche für veränderbar hielten. „Immer mehr bildete sich offenbar der Eindruck, dass eigentlich nichts fest sei in der Kirche, dass alles zur Revision stehe.“ (Aus meinem Leben, 134)

Der oberste Glaubenswächter war sich mit Johannes Paul II. darin einig, dieser Veränderungsdrift entschieden entgegenzusteuern. Das fing bei der Neubesetzung von Bischofsstühlen an, für die nur noch dezidiert linientreue Kandidaten in Frage kamen. Mit dieser Engführung kam es allerdings zu Fehlbesetzungen: In Deutschland waren dies Walter Mixa und Franz-Peter Tebartz-van Elst. Theologen mit akademischen Ambitionen hatten fortan genau darauf zu achten, welche Inhalte sie publizierten, wollten sie die Option auf einen späteren Lehrstuhl aufrechterhalten. Etablierte Theologen, die sich erlaubten, von Rom nicht abgesegnete Positionen zu vertreten, liefen Gefahr, mit Bußschweigen oder Lehrverbot belegt zu werden. Die prominentesten deutschsprachigen Theologen, denen die Lehrbefugnis entzogen wurde, waren Hans Küng und Eugen Drewermann. Weltweit wurden - so Leonardo Boff - etwa hundert Berufskolleg:innen sanktioniert.

1989 protestierten am Dreikönigstag 220 deutsche Theologie-Professor:innen mit der „Kölner Erklärung: Wider die Entmündigung – für eine offene Katholizität“. Darauf reagierend führte das römische Lehramt überhastet einen Treueeid ein, der fortan von Priestern und anderen Amtsträgern zu leisten war.

Im Jahr 1995 wurde von Österreich aus ein Kirchenvolks-Begehren gestartet, das in der BRD von mehr als 1,8 Millionen Gläubigen unterschrieben wurde. Die damaligen Forderungen spiegeln weitgehend das Konfliktfeld wider, auf dem bis heute zwischen deutschem Synodalen Weg und römischem Lehramt gerungen wird. 
     1.     Aufbau einer geschwisterlichen Kirche

2.   Volle Gleichberechtigung der Frauen

3.   Freie Wahl zwischen zölibatärer und nicht-zölibatärer Lebensform

4.   Positive Bewertung der Sexualität

5.   Frohbotschaft statt Drohbotschaft

Der letzte Punkt ist erfreulicherweise mit dem Pontifikat von Franziskus inzwischen eingelöst. Man muss Joseph Ratzinger zugutehalten, dass es ihm nie um Machtausübung per se ging. Er sah sich als Verteidiger göttlicher Wahrheit, war allerdings nicht bereit, den eigenen Wahrheitsanspruch zu hinterfragen.

Ein deutscher Papst in schwierigen Zeiten

Im hohen Alter von 78 Jahren wurde Joseph Kardinal Ratzinger am 19. April 2005 vom Konklave zum 265. Papst der katholischen Kirche gewählt, ein Amt, das er bis zum Februar 2013 innehatte. Es war anrührend mitzuerleben, wie er – der Last des Glaubenswächters ledig – als scheu lächelnder Papst Benedikt XVI. zum Sympathieträger wurde.

Die anfängliche Hochstimmung endete allerdings abrupt am 12. September 2006 mit der Regensburger Rede. Der Pontifex begab sich noch einmal an „seiner Uni“ in die Rolle des Professors am Vorlesepult, ohne sich ausreichend bewusst zu sein, dass jede Äußerung eines Papstes politische Implikationen hat. Er zitierte aus einem Gespräch, das der byzantinische Herrscher Manuel II. Palaiologos im Jahr 1391 mit einem persischen Gelehrten geführt hatte: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten.“ Benedikts Aussage löste in der islamischen Welt eine Welle des Protestes aus, führte aber auch dazu, dass sich 138 muslimische Gelehrte unterschiedlicher Glaubensrichtungen zusammentaten, um einen gemeinsamen offenen Brief zu formulieren, in dem sie zum Dialog über Gemeinsamkeiten der beiden Religionen aufforderten. Dieses Angebot nahm das Oberhaupt der Katholischen Kirche im November 2007 an.

Zu einem weiteren Aufsehen erregenden Vorfall kam es Anfang 2009, als der Pontifex die Exkommunikation von vier Bischöfen der traditionalistischen Piusbruderschaft aufhob und sich herausstellte, dass seit Tagen öffentlich bekannt war, dass einer von ihnen, Bischof Richard Williamson, Holocaust-Leugner war. Nach wochenlangem Schweigen nahm Benedikt XVI. in einem persönlich gehaltenen Brief an die Bischöfe Stellung zu seiner umstrittenen Entscheidung. In seiner Erklärung kommt auch eine, kaum für möglich gehaltene Weltfremdheit des Vatikans zum Ausdruck: „Ich höre, dass aufmerksames Verfolgen der im Internet zugänglichen Nachrichten es ermöglicht hätte, rechtzeitig von dem Problem Kenntnis zu erhalten.“ (Brief an die Bischöfe. 10.03.2009)

Schwerer noch als die obigen Vorkommnisse wiegt die von Benedikt bewusst gesetzte Distanzierung von Protestantismus und Judentum. In einem vatikanischen Dokument von 2007 ließ Benedikt bekräftigen, dass protestantische Kirchen – anders als die Orthodoxie - keine Kirchen im eigentlichen Sinn seien. Und 2008 führte er folgende Karfreitagsfürbitte für die Juden neu ein:

„Wir wollen auch beten für die Juden. Dass unser Gott und Herr ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Heiland aller Menschen.“ Der hier zum Ausdruck kommende Bekehrungsimpetus löste internationalen jüdischen Protest aus.

Was Joseph Ratzinger am stärksten ins Schlingern brachte, ist das Öffentlich-werden von verbrecherischem Verhalten von Priestern und gravierendem Amtsversagen von Bischöfen gegenüber einer großen Zahl an Opfern klerikalen sexuellen Missbrauchs. Als Glaubenspräfekt war er von Anfang an mit einzelnen solcher Fälle befasst, in den 90er Jahren landete dann eine Vielzahl von Missbrauchsakten aus Australien, Irland und Kanada auf seinem Schreibtisch. Die Enthüllungen des Boston Globe 2002 in den USA führte zu einer Flut weiterer Fälle, die in Rom eingingen. Für Joseph Ratzinger, der ein Leben lang das Sehnsuchtsbild einer heilen Kirche hochhielt, die den reinen Glauben unversehrt durch die Jahrhunderte trägt, war die dunkle Realität klerikalen Missbrauchs schwer zu ertragen. Es mutet wie ein Akt der Verzweiflung an, dass er als Papst im Jahr 2009 überraschend ein „Jahr des Priesters“ ausrief. Kaum zu fassen ist, dass er vor dem Hintergrund der ihm bekannten Sexualdelikte vieler Priester im Auftaktschreiben des Priesterjahres seine Mitgeistlichen auffordert, sich „innerlich angerührt und dankbar bewusst zu werden, welch unermessliches Geschenk die Priester nicht nur für die Kirche, sondern auch für die Menschheit überhaupt sind.“  Diese Romantisierung des Priesterstandes paart sich bei ihm mit einer Verantwortungsverschiebung für das Missbrauchsdesaster: “Man könnte nun meinen, der Teufel konnte das Priesterjahr nicht leiden und hat uns daher den Schmutz ins Gesicht geworfen” (Licht der Welt, 52). In Joseph Ratzingers idealisiertem Kirchenkonstrukt war ein Schuldig-werden von Bischöfen an erster Stelle ein vor der Öffentlichkeit zu verbergendes Internum und das Versagen von Päpsten ein Widerspruch in sich. Denn der Mensch ist fehlbar, das Papstamt aber nicht. Insofern hat er als Papst emeritus für sein Fehlverhalten als Erzbischof von München – klerikalen Missbrauch betreffend - nie persönliche Verantwortung übernommen.

Eine Dekade lang Papa emeritus

Am 11. Februar 2013 betritt Benedikt XVI., dessen Lebenswerk bisher dem Hochhalten und der Absicherung der katholischen Überlieferung galt, Neuland. Mit seiner wohlüberlegten Ankündigung seines Rücktritts vom Papstamt bricht er mit der bisherigen Tradition und schreibt damit Kirchengeschichte. Freilich tut er dies zu seinen Bedingungen und tritt nicht zurück ins Glied als emeritierter Bischof von Rom, sondern bleibt Papst, indem er sich weiterhin weiß gewandet und sich fortan Papa emeritus nennt.

Kritischer noch als die Parallelität zweier Päpste war die Scharnierposition des im Dezember 2012 zum Erzbischof erhobenen Georg Gänswein, der in seiner Funktion als Präfekt des Päpstlichen Haushaltes auch für Franziskus tätig wurde, aber ungeachtet dessen weiterhin als Privatsekretär an Benedikts Seite blieb.

Anfang Februar 2020 kam es zum Eklat. Franziskus war gerade dabei, das nachsynodale Schreiben zur Amazonas-Synode des vergangenen Herbstes zu schreiben. Die dortige Versammlung hatte vorgeschlagen, dem gravierenden Priestermangel durch die Weihe von sogenannten „viri probati“ – also im Glauben und Leben bewährten verheirateten Männern – zu Diakonen zu begegnen. Konservative Kreise in Rom waren alarmiert, und einer ihrer Protagonisten, der guineische Kardinalpräfekt Robert Sarah, veröffentlichte am 15. Januar ein Buch, das inhaltlich gegen die Aufweichung des zölibatären Priestertums Front machte. Joseph Ratzinger hatte einen Text beigesteuert - „Le sacerdoce catholique“. Das katholische Priestertum - und firmierte in der französischen Ausgabe als Co-Autor. Das bedeutete gegenüber dem amtierenden Papst einen Affront. Erzbischof Gänswein beeilte sich zwar klarzustellen, dass Benedikt nicht der Co-Autor des Buches sei, aber das Kind war bereits in den Brunnen gefallen, und Gänswein wurde von Franziskus auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Am Ende stand eine Entpflichtung vom Dienst als Präfekt des Päpstlichen Haushaltes.

Dem eskalierenden Konflikt liegt eine von Haus aus schwierige Gemengelage zugrunde. Zwei Wochen vor seinem terminierten Rücktritt verkündete Benedikt XVI. vor dem versammelten römischen Klerus, dass er sich zurückziehen und für die Welt verborgen bleiben werde. Als weltabgewandten zukünftigen Lebensort wählte er das vatikanische Kloster Mater Ecclesiae. Doch wollte weder die Welt – insbesondere die Benedikt verbundenen traditionalistischen Katholiken – den Papa emeritus in Ruhe lassen, noch wollte er selbst darauf verzichten, zu schreiben, sich ab und an zu Wort zu melden, Interviews zu geben, Besuch zu empfangen und sich fotografieren zu lassen.

Von Anfang an bestand die ambivalente Konstellation, dass bei Äußerungen und Stellungnahmen Benedikts nie so ganz klar war, wo er authentisch für sich sprach, und wo er unter dem interessengeleiteten Einfluss seines Umfelds stand. Diese Problematik verstärkte sich mit fortschreitendem Alter und wurde besonders 2021 und 2022 virulent, als sich das Münchner Missbrauchsgutachten mit dem Verhalten des Erzbischofs Ratzinger in den Jahren 1977 bis 82 befasste.

Das Phänomen eines Papa emeritus wird wohl ein singuläres Geschehnis bleiben. Denn im Falle eines Rücktritts von Papst Franziskus wird erwartet, dass sich dieser an den Empfehlungen von Experten orientieren wird. Das jetzige Oberhaupt der Kirche würde demzufolge ins Glied zurücktreten, wäre vom Status her emeritierter Erzbischof von Rom und würde das papale weiße Gewand ablegen. Ein solches Prozedere würde insbesondere in einer denkbaren Konstellation Eineindeutigkeit herstellen, wo mehrere ehemalige Päpste sich zeitgleich im Vatikan aufhalten würden. Es würde dadurch insbesondere eine Verunklarung der pyramidal-hierarchischen Verfasstheit der Kirche vermieden, an deren Spitze ein im Konklave gewählter Stellvertreter Jesu Christi steht.

II. JOSEPH RATZINGER / PAPST BENEDIKT ALS STRATEGE UND ENTSCHEIDER DER NACHKONZILIAREN KIRCHE

Wer hätte von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an bis heute mehr Einfluss auf die Katholische Kirche genommen als Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Er war Konzilstheologe, Professor an bedeutenden deutschen Fakultäten, Erzbischof einer großen Diözese, war 23 Jahre lang der Präfekt der vielerorts gefürchteten Glaubenskongregation, lenkte 8 Jahre lang als Papst die Geschicke der Weltkirche und war auch in den 10 Jahren als Papa emeritus vernehmbar.

Als mächtiger Präfekt der Glaubenskongregation, und auch dank seiner theologischen Expertise, konnte er der Gegenwartskirche seinen Stempel aufdrücken, indem er die nach-konziliare Veränderungsdynamik außer Kraft setzte und die hierarchische Papstkirche per Top-down-Entscheidungen zementierte. Bei der von ihm als Papst verfolgten Agenda ging es ihm vor allem darum, das Profil der Katholischen Kirche in Abgrenzung zu anderen Glaubensgemeinschaften und Religionen zu schärfen. Die von Ratzinger/Benedikt jahrzehntelang betriebene Kirchenpolitik kann man mit drei Leitbegriffen kennzeichnen: Entweltlichung, Gefahrenabwehr und Identitätssicherung.

ENTWELTLICHUNG

Das Motiv der Entweltlichung taucht bei Joseph Ratzinger schon 1958 auf, als er noch den progressiven Kräften der Kirche zugerechnet wurde. In seinem Aufsatz „Die neuen Heiden und die Kirche“ problematisiert er ein neues Heidentum, „das im Herzen der Kirche selbst unaufhaltsam wächst und sie von innen her auszuhöhlen droht.“ In der Kirche würden angebliche Christen überhandnehmen, die in Wirklichkeit Heiden sind. „Der Mensch von heute kann also als Normalfall den Unglauben seines Nachbarn voraussetzen.“ Ratzinger sieht die Notwendigkeit, noch vorhandene weltliche Positionen rigoros abzubauen, um die Kirche als Überzeugungsgemeinschaft hervortreten zu lassen, als Gemeinschaft der Glaubenden. Er sieht einen unaufhaltsamen Wandel voraus, der von der Weltkirche, die mit der Zivilgesellschaft verflochten ist, hinführt zur Kirche der „kleinen Herde“ der dezidiert Entschiedenen.

Mehr als 50 Jahre später rückt Joseph Ratzinger als Papst Benedikt bei seiner Deutschlandreise 2011 wiederum die Forderung nach einer Entweltlichung der Kirche in den Vordergrund. Seine Diagnose lautet: „Der Schaden der Kirche kommt nicht von ihren Gegnern, sondern von den lauen Christen.“ Und als Therapie empfiehlt er: „Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein.“ Speziell an die Präsidiumsmitglieder des Zentralkomitees der deutschen Katholiken adressiert, kritisiert er, dass es in der in Deutschland bestens organisierten Kirche „einen Überhang an Strukturen gegenüber dem Geist gibt.“ Und am Tag darauf nimmt er sich beim Abschlussgottesdienst mit fast 100.000 Teilnehmern heraus, engagierte Laien und professionell in der Kirche Tätige zu beargwöhnen: „Agnostiker, die von der Frage nach Gott umgetrieben werden…sind näher am Reich Gottes als kirchliche Routiniers, die in ihr nur noch den Apparat sehen, ohne dass ihr Herz vom Glauben berührt wäre.“

Benedikt weiß, welche umfangreiche und wertvolle Arbeit die Katholische Kirche in der BRD im Bereich des Sozial- und Gesundheitssystems leistet, und dass diese tätige Nächstenliebe nur auf einer ausreichenden materiellen Basis erbracht werden kann, und empfiehlt dennoch, „die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen.“ In seiner Kritik am „etablierten und hochbezahlten Katholizismus, vielfach mit angestellten Katholiken“ in Deutschland schwingt m. E. mit, dass ihm eine ärmere deutsche Kirche überhaupt zupasskäme. Es wäre durchaus in seinem Sinne, die weltweit angesehene, profilierte und tendenziell romkritische deutsche Theologie zu schrumpfen und die Mittelzuflüsse an selbstbewusste katholische Laienorganisationen auszutrocknen.

Das Resümee der papalen Deutschlandvisite brachte Hans Küng präzise auf den Punkt: „Wo Gott ist, da ist Zukunft.“ - „Wo dieser Papst ist, da ist Vergangenheit.“ (Freie Presse, Chemnitz)

GEFAHRENABWEHR

Joseph Ratzinger neigte aufgrund seiner mentalen und biografischen Dispositionen eher zu Pessimismus und düsterer Zukunftserwartung. Eine mehrfach von ihm verwendete Metapher für den Niedergang der Kirche ist die des untergehenden Bootes.

„Herr, oft erscheint uns deine Kirche wie ein sinkendes Boot, das schon voll Wasser gelaufen und ganz und gar leck ist.“ (Karfreitags-Kreuzweg, 25. März 2005)

„Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennengelernt … Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden.“ (Predigt vor dem Beginn des Konklaves, 18. April 2005)

„… hat es mich bewegt, dass er … immer mehr aus der tiefen Gewissheit lebte, dass der Herr seine Kirche nicht verlässt, auch wenn manchmal das Boot schon fast zum Kentern angefüllt ist.“ (Grußwort von Benedikt XVI. zum Requiem von Kardinal Meisner 2017)

Dem Kontext des ersten Zitates lässt sich entnehmen, dass Kardinaldekan Ratzinger, der Papst Johannes Paul II. kurz vor dessen Tod beim Karfreitags-Kreuzweg vertrat, unter dem ihn aufwühlenden Eindruck der zahlreichen – klerikalen sexuellen Missbrauch dokumentierenden - Akten aus dem angelsächsischen Raum stand, die in den letzten Jahren auf seinem Schreibtisch gelandet waren. „Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten?“ (Karfreitags-Kreuzweg 2005)

Das zweite Zitat beinhaltet eine Kritik an jenen Theologen, die Glaubensmeinungen vertreten, die mit dem römischen Lehramt nicht übereinstimmen und aus kurialer Sicht die Gläubigen in Verwirrung stürzen.

Im Kontrast zum kenternden Boot des dritten Zitates hat Benedikt vorausgehend den verstorbenen Kölner Erzbischof Joachim Meisner als standfeste Persönlichkeit gekennzeichnet, der sich als überzeugender Hirte der „Diktatur des Zeitgeistes“ entgegenstellte.

Nimmt man die drei Boots-Metaphern zusammen, so spiegeln diese das Spektrum des Benedikt’schen Abwehrkampfes adäquat wider.

- Der äußere Feind ist die moderne hedonistische Gesellschaft, der nichts heilig ist, und die mit ihren Verlockungen verhindert, dass die Menschen zu ihrem eigentlichen Wesen finden können. Deren „Diktatur des Relativismus“ lässt den wahren Glauben des römischen Katholizismus als nur eine Option innerhalb der gesamten religiösen Angebotspalette erscheinen.

- Die inneren Feinde sind zum einen die lauen service-orientierten Christen und zum anderen die engagierten kritischen Gläubigen, die lehramtliche Vorgaben in Frage stellen und sich auf ihr eigenes Denken und Gewissen verlassen. Schlimmer noch sind jene Theologen, die eigene Einsichten über die des Lehramtes stellen und auch noch Anklang beim Gottesvolk finden. Am verheerendsten sind klerikale Missbrauchstäter, deren Verbrechen die Kirche allerdings – zu Lasten der Opfer – bagatellisierte.

Aus Sicht Benedikts befinden sich die gegenwärtige Zivilisation wie auch die Kirche in einer fundamentalen Krise, und er antwortet darauf mit einer Doppelstrategie. Zum einen muss sich die Kirche von der modernistischen Welt zurückziehen, die Reihen schließen und den Schatz des Glaubens und der katholischen Tradition bewahren. Das wäre das Kirchenschiff, das sich zur Arche Noah umrüstet, um dort bis zu besseren Zeiten auszuharren. Im Kontrast dazu inszeniert Benedikt sich und die Papstkirche als römisches Leuchtfeuer, deren zeremonielle Pracht die graue, gottlose Zivilgesellschaft überstrahlt und den Glanz der Ewigkeit aufscheinen lässt.

IDENTITÄTSSICHERUNG

Nach innen ging es Joseph Ratzinger um eine Definition und Festigung dessen, was er als Fundament des Katholischen ansah. Nach außen war für ihn die Katholische Kirche die Messlatte, anhand derer sich der Stellenwert aller anderen Glaubensgemeinschaften und Religionen bestimmen ließ.

1. Die Durchsetzung der Alleinstellungsposition der römisch-katholischen Kirche

Eine Kernaussage der Kirchenkonstitution des II. Vatikanums, die von einer breiten Öffentlichkeit als bedeutsamer Fortschritt angesehen wurde, passte ganz und gar nicht in das Konzept des Präfekten der Glaubenskongregation. Das ursprüngliche, von der Kurie vorbereitete Schema der Pastoralkonstitution „Über die Kirche“ – das den Konzilsvätern 1962 vorgelegt wurde - wäre ganz im Sinne von Joseph Ratzinger gewesen und lautete an der entscheidenden Stelle:

„So lehrt also die heilige Versammlung …, dass es nur die eine wahre Kirche Jesu Christi gebe, diejenige nämlich, … die der Erlöser … dem heiligen Petrus und seinen Nachfolgern … zur Leitung übergeben hat; und deshalb wird einzig die katholische römische mit Recht Kirche genannt.“ (Zit. nach Knauer, 154)

Im Verlauf der konziliaren Beratungen einigten sich die Bischöfe 1964 allerdings auf eine textliche Endfassung, die eine markante Bedeutungsverschiebung beinhaltet:

„Dies ist die einzige Kirche Christi, die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen. … Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird.“ (Lumen gentium, Nr. 8)

Die universale Kirche des Glaubensbekenntnisses ist demzufolge nicht identisch (lat. est) mit der römisch-katholischen Kirche als Einzelkirche, sondern ist in dieser verwirklicht (lat. subsistit in). Das Konzil räumt also ein, dass die eine universale Kirche auch in anderen christlichen Kirchen subsistieren könnte, in denen an Jesus Christus und seine Gottessohnschaft geglaubt wird. In dieser Perspektive hätte das Konzil einen Durchbruch im Hinblick auf eine Ökumene auf Augenhöhe erzielt. 

Was im konfessionell geteilten Deutschland als hoffnungsvolle Weichenstellung in Richtung versöhnter Verschiedenheit von Katholiken und Protestanten wahrgenommen wurde, wertete Joseph Ratzinger als Ausverkauf der römisch-katholischen Vorrangstellung. Als Theologe stellte er heraus, dass die Formel ‚Die universale Kirche des Glaubensbekenntnisses ist in der römisch-katholischen Kirche verwirklicht‘ „widersprüchlichste Deutungen gefunden hat“ (Ratzinger 2002), und als Glaubenspräfekt gab er mit seinem Schreiben „Dominus Iesus“ (2000) als lehramtlich verbindliche Lesart vor, „dass die Kirche Christi trotz der Spaltungen der Christen voll nur in der katholischen Kirche weiterbesteht.“ (Nr. 16) Sowie: „Wenn es auch wahr ist, dass die Nichtchristen die göttliche Gnade empfangen können, so ist doch gewiss, dass sie sich objektiv in einer schwer defizitären Situation befinden.“ (Nr. 22)

Mit der von ihm geltend gemachten katholischen Hegemonialstellung nimmt Joseph Ratzinger für sich die Definitionsmacht in Anspruch, beispielsweise der Orthodoxie zuzugestehen, sich als Kirche zu bezeichnen, während sich die protestantischen Kirchen mit dem Status „Kirchliche Gemeinschaft“ abzufinden haben. Konstruktivem ökumenischem Dialog ist damit jeder Boden entzogen.

2. Die Verteidigung der vorkonziliaren Tradition gegen Neuerer und Reformer

Worum es Joseph Ratzinger letztlich geht, wird an einer Stelle seines Buches „Einführung in das Christentum“ (Erstausgabe 1968) augenfällig, wo er auf das Märchen vom „Hans im Glück“ zurückgreift, um den von ihm wahrgenommenen Verfall zeitgenössischen Katholizismus‘ zu illustrieren.

Hat unsere Theologie „nicht den Anspruch des Glaubens … stufenweise herunterinterpretiert? … Und wird der arme Hans, der Christ, der vertrauensvoll sich von Tausch zu Tausch, von Interpretation zu Interpretation führen ließ, nicht wirklich bald statt des Goldes, mit dem er begann, nur noch einen Schleifstein in Händen halten, den wegzuwerfen man ihm getrost zuraten darf?“ (Lizenzausgabe 2005, 27)

Von diesem Bild her lässt sich die Lebensaufgabe, die Joseph Ratzinger als seine Bestimmung begreift, klar benennen: Es gilt den Goldschatz des Glaubens, der von den Kirchenvätern grundgelegt wurde, und der seine Kindheit geprägt hatte, gegen jegliches Relativierungsansinnen zu verteidigen. Das schließt für den Glaubenshüter mit ein, von ihm konstatierte Fehlentwicklungen, deren Ausgangspunkt er im II. Vatikanum sieht, zu korrigieren.

Im Rückblick wird erkennbar, dass sich Papst Johannes Paul II. und sein ab 1982 amtierender Glaubenspräfekt darauf verständigt haben, der nach-konziliaren Vielstimmigkeit innerhalb der Kirche und den öffentlich ausgetragenen Kontroversen ein Ende zu bereiten. Die Enzyklika Pauls VI. von 1968, Humanae vitae, hatte bei Gläubigen, Theologen, Priestern und auch Bischöfen Empörung und Widerspruch ausgelöst und dazu geführt, dass nicht wenige den - der römischen Lehrautorität geschuldeten - Glaubensgehorsam aufkündigten. Für das katholische Führungsduo kam alles darauf an, die Wortführer in der Kirche wieder auf Linie zu bringen und die Gläubigen darauf zu verpflichten, sich dem hierarchischen Lehramt unterzuordnen.

Im Lauf der Jahre wurden mit den Instrumenten Professio fidei und Treueid erst die Bischöfe (1987), dann die innerkirchlichen Multiplikatoren (1990) und am Ende alle Gläubigen (1998) eingenordet. Werner Böckenförde führt folgendes, absurd anmutendes Szenario vor Augen: „Wer also für die Priesterweihe für Frauen eintritt, kann seit Inkrafttreten des Schreibens am 1. Oktober 1998 von seinem Diözesanbischof zum Widerruf ermahnt, ggf. bestraft, aber auch direkt von Rom zur Verantwortung gezogen werden.“ (1998, 7)

Diejenigen Hauptamtlichen, die sich quer stellten, kamen entweder für bestimmte berufliche Positionen nicht mehr in Frage oder wurden ihres Dienstes enthoben. In der Folge reagierten bezahlte kirchliche Mitarbeiter mit Angst und Selbstzensur, es entstand ein denunziatorisches Milieu und über die Kirche legte sich Mehltau.

Neben der präventiven Stärkung der formalen Lehrautorität ging es Papst und Glaubenspräfekt auch um die inhaltliche Ausweitung des lehramtlichen Definitionsbereiches. 

Im Codex Iuris Canonici (CIC), dem Gesetzbuch der Kirche, das – ausgehend vom Konzil - neu konzipiert wurde und 1983 in Kraft trat heißt es: 

„Kraft göttlichen und katholischen Glaubens ist all das zu glauben, was im geschriebenen oder im überlieferten Wort Gottes als dem einen der Kirche anvertrauten Glaubensgut enthalten ist und zugleich als von Gott geoffenbart vorgelegt wird, sei es vom feierlichen Lehramt der Kirche, sei es von ihrem ordentlichen und allgemeinen Lehramt.“ (Can. 750)

Das war bereits vor 1983 sittlich geboten, „wurde jetzt (aber) zusätzlich zu einer Rechtspflicht, deren Verletzung strafbar ist.“ (Böckenförde, 1998, 4) Um den zahlreichen lehramtlichen Verfügungen des „Doppelpontifikats“ auch ein rechtlich stärkeres Gewicht zukommen zu lassen, führte Papst Johannes Paul II. „zum Schutz des Glaubens der katholischen Kirche gegenüber den Irrtümern, die bei einigen Gläubigen auftreten“ (Apostolisches Schreiben ‚Ad tuendam fidem‘) 1998 eine zusätzliche Rechtsnorm ein. Der neu zum Kanon 750 hinzugefügte §2 deckt sich inhaltlich mit dem zweiten Zusatz der 1990 angeordneten Professio fidei:
„Fest anzuerkennen und zu halten ist auch alles und jedes, was vom Lehramt der Kirche bezüglich des Glaubens und der Sitten endgültig vorgelegt wird … daher widersetzt sich der Lehre der katholischen Kirche, wer diese als endgültig zu haltenden Sätze ablehnt.“. (Can. 750 -§ 2)

Ich nenne nur zwei Beispiele von zahlreichen vom damaligen Lehramt als endgültig und verbindlich erklärten Sätzen:

- „Die Kirche hat stets gelehrt, dass die Empfängnisverhütung, das heißt jeder vorsätzlich unfruchtbar gemachte Akt, eine in sich sündhafte Handlung ist.“ (Römisches Beichtväter-Vademecum, 1997, Nr. 4)

- „… erkläre ich kraft meines Amtes …, dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und dass sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben.“ (Ordinatio sacerdotalis, 1994, Nr. 4)

3. Vom Normen-Regiment zur kirchenpolitischen Offensive

Joseph Ratzinger war nicht bereit, sich von auf Erneuerung drängenden Reformkatholiken und einer kirchenkritischen Medienöffentlichkeit in die Rolle des Verhinderers und Ewig-Gestrigen drängen zu lassen. Er war ja von der genuinen Wahrheit seines Welt- und Kirchenbildes überzeugt und sah die sich als aufgeklärt gerierenden, modernistischen Gesellschaften auf dem Holzweg. Also drehte er den Spieß um und schaltete von Verteidigungshaltung auf Angriff. Er maßte sich an, Werte wie Toleranz und Kompromissbereitschaft, individuelle Selbstverwirklichung, Pluralismus und partizipative Teilhabe unter das von ihm kreierte Narrativ einer „Diktatur des Relativismus“ zu subsumieren. In der von ihm geleiteten Messe vor der Papstwahl 2005 predigte er diese, seine Programmatik den versammelten Kardinälen:

„Wie viele Doktrinen haben wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkmoden … Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden … Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich »vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen«, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“ (St. Peter, 18. April 2005)

Mehrere Kardinäle applaudierten, und man kann davon ausgehen, dass dieser Auftritt mit ausschlagend dafür war, dass aus Joseph Ratzinger Benedikt XVI. wurde.

Zusätzlich zu dem wirkmächtigen Konstrukt „Diktatur des Relativismus“ gelang es ihm mit seiner Ansprache beim Weihnachtsempfang der römischen Kurie 2005 ein weiteres, in der theologischen Debatte vielfach aufgegriffenes Narrativ zu setzen. Er erinnerte an den 40. Jahrestag des II. Vatikanums und sprach die – aus seiner Sicht – problematische Rezeption des Konzils an. Alles hinge ab „von einer korrekten Auslegung des Konzils oder – wie wir heute sagen würden – von einer korrekten Hermeneutik.“ Von diesem Ausgangspunkt aus postuliert Benedikt eine Dichotomie zweier unvereinbarer Hermeneutiken, zum einen die »Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches« und zum anderen die »Hermeneutik der Reform«. Erstere hätte Verwirrung gestiftet, die zweitgenannte hätte Früchte getragen. Hier spaltet der streitlustige Polarisierer Joseph Ratzinger, demgegenüber der von der Wortbedeutung her brückenbauende Pontifex das Nachsehen hat.

Dass der »Hermeneutik der Diskontinuität« progressive Katholik:innen und die moderne Theologie zuzurechnen sind, versteht sich von selbst, aber wie erklärt sich, dass er die konservativ-traditionalistische Sichtweise, die insbesondere er selbst repräsentiert, als »Hermeneutik der Reform« labelt? Benedikt XVI. versteht unter Reform nicht die Umgestaltung des Bestehenden zum Besseren hin, sondern für ihn zielt Reform auf die Wiederherstellung eines früheren Zustands. Er hat also den Kirchenreformern den Begriff der „Reform“ stibitzt und sich dadurch aus der Defensive in die Offensive katapultiert.

III. WER WAR JOSEPH RATZINGER?

Die Frage lässt sich bei der Vielschichtigkeit des Protagonisten sicher nur perspektivisch und auch nur subjektiv getönt beantworten.

Man kann Joseph Ratzingers Leben in drei Phasen Einteilen:

1. Kindheit und Jugend von 1927 bis 1945

2. Studium bis zur Niederlegung der Professur in Regensburg

3. Hoher Amtsträger ab der sechsten Lebensdekade

Joseph Ratzinger wuchs mit zwei Geschwistern in sehr bescheidenen Verhältnissen in einer liebevollen Familie auf, die tief in der bayerisch-katholischen Lebenswelt verwurzelt war. Die innerfamiliäre Stimmigkeit kontrastierte allerdings mit dem äußeren nationalsozialistischen Terror, mit dem der Vater als Polizist gezwungenermaßen in Berührung kam. Mit seiner Einberufung im August 1943 machte Joseph hautnahe Erfahrungen mit dem Hass und den Gewaltexzessen des gottlosen Nazi-Regimes. Die zwei Jahre als Flakhelfer und Wehrmachtssoldat ließen ihn früh erwachsen werden und beförderten die klare Entscheidung, Priester werden zu wollen.

Nach dem Kriegsende erlebte Joseph nicht nur die Freiheit des Aufbruchs in eine lebenswerte Zukunft, sondern auch die Freiheit akademischen Nachdenkens und Forschens. Nicht unbedingt erwartbar machte er sich als Seminarist die Romkritik innerhalb der Münchner theologischen Fakultät zu eigen und entwickelte sich in nur wenigen Jahren zu einem Gelehrten, der nicht nur in Bonn als aufgehender Stern am Theologenhimmel gesehen wurde.

Der akademische Freiheitsweg des jungen Theologen Ratzinger kreuzte sich mit dem konziliaren Aufbruch der 60er Jahre. Der Kölner Erzbischof, Kardinal Frings, kürte den 34-jährigen zu seinem Redenschreiber, und als Konzils-Peritus (theologischer Berater) ab 1962 zählte Ratzinger zu den fortschrittlichen Kräften, die die von einer verknöcherten Kurialbürokratie vorbereiteten Schemata vom Tisch fegten und den Raum für Ideenentwicklung und neue Konzepte frei machten.

Zu welch pointierter Kritik an einer selbstreferenziellen Kirche der brillante Theologe damals in der Lage war, kommt in einer Rede beim Bamberger Katholikentag 1966 zum Ausdruck, einer zeitgeschichtlich signifikanten Positionierung, die auch die Tragik von Ratzingers Biografie aufscheinen lässt:

„Schuldhafter Skandal ist es, wenn unter dem Vorwand, die Unabänderlichkeit des Glaubens zu schützen, nur die eigene Gestrigkeit verteidigt wird: nicht der Glaube selbst, der längst vor jenem Gestern und seinen Formen war, sondern eben die Form, die er sich einmal aus dem berechtigten Versuch heraus verschafft hat, in seiner Zeit zeitgemäß zu sein, aber nun gestrig geworden ist und keinerlei Ewigkeitsanspruch erheben darf. … Schuldhafter Skandal ist es auch, wenn unter dem Vorwand, die Ganzheit der Wahrheit zu sichern, Schulmeinungen verewigt werden, die sich einer Zeit als selbstverständlich aufgedrängt haben, aber längst der Revision und der neuen Rückfrage auf die eigentliche Forderung des Ursprünglichen bedürfen.“ (Ratzinger 1966)

Genau diese Sätze hätten Kritiker Jahre später dem medial als Großinquisitor oder Rottweiler Gottes gebrandmarkten Kardinalspräfekten der 80er und 90er Jahre entgegenschleudern können.

Der einschneidende Wendepunkt in Joseph Ratzingers Leben war seine Berufung im März 1977 als Nachfolger des Münchner Erzbischofs Kardinal Döpfner. Der Ausnahmetheologe war mit Leib und Seele Gelehrter, mit einem großen Zulauf an Studierenden, internationalen Einladungen als Vortragsredner und Büchern mit hoher Auflage. Sein Ziel war es „im großen geistigen Gespräch unserer Zeit wesentlich mitzudenken und mitzureden, ein eigenes Opus zu entwickeln.“ (Salz der Erde, 1996, 124) Diese seine Lebenserfüllung hatte er aufzugeben, um „in das Kleine und Vielfältige der faktischen Konflikte und Ereignisse hinuntersteigen“ und sich „einfach in den Dienst hineinstellen und ihn als meine Aufgabe an(zu)nehmen.“ (ebd.) Das hatte allerdings einen hohen Preis, den der Universitätsprediger der Münchner St. Ludwig Kirche, Eugen Biser, wahrnahm. Er erkannte, dass bei Ratzinger „die Differenz zwischen Amt und Person etwas sehr Leidvolles, Leben zerstörendes ist.“ (Zit. nach Seewald 2020, 705)

Von seinem Selbstverständnis her war und blieb Joseph Ratzinger an erster Stelle Gelehrter, dem auferlegt war, die Funktion eines hochgestellten katholischen Hierarchen auszuüben, die mit seinen persönlichen Neigungen und Dispositionen wenig kompatibel war. Deutlich wird das 1982, als er die Position des Leiters der Glaubenskongregation übernahm und bei seiner Ankunft in Rom seinem Sekretär Bruno Fink offenbarte, dass er sich spätestens nach der Ableistung von zwei Fünfjahresperioden von seiner Amtspflicht als Glaubenspräfekt entbinden lassen würde, um als 65-jähriger Pensionär in sein Haus in Pentling zurückzukehren. Dort würde er dann wichtige Bücher schreiben. (vgl. Seewald, 704) Dieses Wunschszenario betreffend machte ihm Johannes Paul II. einen Strich durch die Rechnung. Aber noch als Papst Benedikt publizierte er seine Jesus-Bücher unter dem Namen Joseph Ratzinger und legte Wert darauf, dass er als Autor kritisierbar war. Mit seinen zwei Schülerkreisen traf er sich regelmäßig zu theologischen Tagungen und hielt auch hier das wissenschaftliche Ethos hoch. Sein ehemaliger Tübinger Assistent, Wolfgang Beinert, berichtete, dass er einmal zu Papst Benedikt gesagt hätte: „Mit dieser meiner Meinung wirst du nicht einverstanden sein“. Dieser hätte ihn daraufhin angeherrscht: „Als Wissenschaftler wird man doch verschiedene Meinungen haben dürfen.“ (Deutschlandfunk 2023)

Die Rolle des Glaubenspräfekten forderte Joseph Ratzinger in hohem Maße. Von Georg Ratzinger wissen wir, dass sich sein Bruder Härte abringen musste, und Kardinal Koch ist überzeugt, der oberste Glaubenshüter habe sich „sehr schwer getan mit den Verurteilungen, das ging ganz gegen sein Naturell.“ (Seewald, 704f) Insbesondere setzte ihm schwer zu, dass er als einer, der ein verklärtes Sehnsuchtsbild einer heiligmäßigen Kirche in sich trug, über 23 Jahre hinweg ständig nicht nur mit Angriffen auf diese Kirche konfrontiert war, sondern auch mit Korruption und Geldwäsche im Vatikan und strafbaren Vergehen und Fehltritten von Kirchenangehörigen weltweit. Tiefpunkt war der sich permanent ausweitende Skandal klerikalen sexuellen Missbrauchs.

So sehr Joseph Ratzinger seine Wahl zum Papst auch als Bürde empfand, so war es für ihn doch befreiend, das Amt des Glaubenswächters hinter sich lassen zu können, und so war insbesondere in der Anfangszeit ein lächelnder und menschenzugewandter Papst Benedikt zu erleben.

Ab 1982 hatte Joseph Ratzinger quasi zwei Gesichter und bildete eine Doppelidentität als theologischer Gelehrter und als rigoroser Inhaber des Amtes des Glaubenspräfekten aus. Dieser intrapsychische Spagat war kräftezehrend, wobei dem Bayern in Rom zugutekam, dass er auf gewachsene Ressourcen zurückgreifen konnte. Mit seiner Schwester Maria lebte er ab 1969 – als er Professor in Regensburg wurde – bis zu deren Tod 1992 zusammen und auch mit seinem Bruder Georg hatte er häufig sowohl in Rom als auch in Bayern Kontakt. Wie sehr der Rückbezug auf das innige Glaubensleben seiner Kindheit ein tragendes Fundament war, kommt in einer von Peter Seewald geschilderten täglichen Routine zum Ausdruck: „Jeden Morgen um 7 Uhr – außer donnerstags – war Maria „quasi Mesnerin, die dem Priester in die Gewänder hilft, Ministrantin und ‚Volk‘ zugleich. Der Kardinal sucht vor dem Gottesdienst die Lieder aus und schreibt die entsprechenden Nummern in der richtigen Reihenfolge auf einen Zettel. An Sonn- und Feiertagen gibt es eine ‚Prozession‘.“ (Seewald, 701) Diese familiäre Glaubensidylle war für Joseph Ratzinger sicher ein Gegengewicht zu all dem „Schmutz“, dem er tagtäglich in der Glaubensbehörde begegnete.

Als Kardinal mit direktem Zugang zum Papst war Joseph Ratzinger nicht darauf angewiesen, innerhalb der Kurie zu netzwerken und eine Seilschaft aufzubauen – was ihm von Haus aus zuwider gewesen wäre. Indem er das Prinzip Familie ausdehnte und seine Mitarbeiter, Schüler und ihn verehrende bayerische Landsleute miteinbezog, machte er sich vom Vatikan und der Kurie auch emotional unabhängig. Sowohl Freunde wie auch Gegner nahmen ihn als eine Art vatikanischen Solitär wahr, der sich von seinem Umfeld durch Bescheidenheit, Integrität und Unabhängigkeit abhob.

In höherem Alter setzte sich der Mensch und Gelehrte Joseph Ratzinger von der Kompromisslosigkeit und Starrheit des gestrengen Glaubenshüters ab. Beim Requiem für den verstorbenen Papst Johannes Paul II. spendete er 2005 als Kardinaldekan dem evangelischen Prior der Communauté de Taizé, Roger Schutz, die heilige Kommunion. Und als Horst Seehofer mit einer bayerischen Delegation zur Feier des 85sten Geburtstages von Papst Benedikt in Rom weilte, reichte dieser ihm in der Cappella Paolina des Vatikans - entgegen lehramtlicher Vorgabe - die konsekrierte Hostie. Von Seehofer war bekannt, dass er wiederverheiratet geschieden und zudem Vater einer unehelichen Tochter war.

Die geistige Weite des Gelehrten obsiegte auch gegenüber dem bornierten Glaubenspräfekten, als er im Interview mit Peter Seewald kundtat: „Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt. … Jeder, der zu Gott unterwegs ist, ist damit auf irgendeine Weise auch auf dem Weg Jesu Christi.“ (Salz der Erde, 35)

Am 11. Februar 2013 – einem Rosenmontag - gab er den Kardinälen in lateinischer Sprache seinen Rücktritt bekannt. Er, der restaurative Bewahrer des Depositum fidei (das hinterlegte Glaubensgut) durchbrach nicht nur eine 2000-jährige Tradition, sondern bat darüber hinaus „um Verzeihung für alle meine Fehler.“ Mit diesem Eingeständnis relativierte er auch die Doktrin der Unfehlbarkeit des Papstes.

Mit den von mir angeführten Tathandlungen des altersweisen Joseph Ratzinger setzte sich schlussendlich dessen Gelehrtenidentität gegen den amtskirchlichen Konservator durch. Paradoxerweise bahnte ausgerechnet der Oberhirte, der die Zukunft der Kirche in einer dezidierten Rückbindung an die Tradition sah, mit seinem Rücktritt einem moderneren Verständnis des Papstamtes den Weg. Wer hätte für möglich gehalten, dass sich Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. am Ende seiner langen beispiellosen Karriere als Gewährsmann eines unhintergehbaren Prinzips der Katholischen Kirche erweisen würde: ECCLESIA SEMPER REFORMANDA (Kirche ist immer reformbedürftig).

Stefan Schopf, 1. Mai 2023 


Literatur

 

Benedikt XVI.: Ansprache anlässlich des Weihnachtsempfangs 2005 

Benedikt XVI.: Brief an die Bischöfe. 10.03.2009  

Benedikt XVI.: Schreiben zum Beginn des Priesterjahres. 10. Juni 2010

Benedikt XVI.: Licht der Welt: Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald. Herder 2010

Benedikt XVI.: Regensburger Rede. 12.09.2012

Benoît XVI / Robert Sarah: Des profondeurs de nos coeurs. Editeur Fayard. Paru le 15 janvier 2020

Böckenförde, Werner: Kirchenrechtliche Anmerkungen zur gegenwärtigen Lage in der römisch-katholischen Kirche 1998

Deutsche Bischofskonferenz, Sekretariat (Hg.): Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg, 22.–25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte. Bonn 2011

Deutschlandfunk: Tag für Tag. O2.01.2023

Karfreitagsfürbitte vom 05.02.2008

KirchenVolksBegehren 1995. Ziele und Forderungen. 

 Knauer, Peter SJ: Die »Katholische Kirche« subsistiert in der »Katholischen Kirche«. Zur ökumenischen Tragweite von Lumen gentium 8,2. In: Hainz / Jüngling / Sebott (Hg.) »Den Armen eine frohe Botschaft«. Festschrift für Bischof Franz Kamphaus zum 65. Geburtstag. Verlag Josef Knecht, Frankfurt am Main 1997, 153 ­ 167

„Kölner Erklärung: Wider die Entmündigung – für eine offene Katholizität“. 06.01.1989

Kongregation für die Glaubenslehre: Erklärung Dominus Iesus. Über die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche. 06.08.2000

Ratzinger, Joseph: Die neuen Heiden und die Kirche. In: Hochland 51 (1958/1959). 1–11.

Ratzinger, Joseph: Der Katholizismus nach dem Konzil – Katholische Sicht. In: ZdK (Hg.) Auf Dein Wort hin. 81. Deutscher Katholikentag vom 13. Juli bis 17. Juli in Bamberg. Paderborn 1966, 245-264

Ratzinger, Joseph: Glaube und Zukunft. Kösel 1970

Ratzinger, Joseph: Die Liebe Gottes lehren und lernen. Predigt zum 40. Priesterjubiläum von Msgr. Pfarrer Franz Niegel, Unterwössen 1994. In: JRGS 12, 768

Ratzinger, Joseph Kardinal: Salz der Erde: Christentum und katholische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Gespräch mit Peter Seewald. DVA 1996

Ratzinger, Joseph: Aus meinem Leben: Erinnerungen (1927-1977) 1998

Ratzinger, Joseph Cardinal: Die Ekklesiologie der Konstitution Lumen gentium. In ders.: Weggemeinschaft des Glaubens. Kirche als Communio. Herausgegeben im Auftrag des Schülerkreises; Redaktion: Stephan Otto Horn / Vinzenz Pfnür, Augsburg 2002, 107–131

Ratzinger, Joseph: Predigt 18. April 2005

Ratzinger, Joseph: Einführung in das Christentum. Weltbild 2005

Sarah, Robert: Aus der Tiefe des Herzens. Priestertum, Zölibat und die Krise der katholischen Kirche. Mit einem Beitrag von Papst Benedikt XVI.. FE-Medienverlag Kisslegg, 14. Februar 2020

Seewald, Peter: Benedikt XVI. Ein Leben. Droemer Verlag, München 2020. 1150 Seiten 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Samstag, 4. Juli 2020

Mit Meister Eckhart auf Gottsuche


Eckhart von Hochheim wurde um 1260 in Thüringen geboren und zählte um 1300 zu den fähigsten Persönlichkeiten des damals aufstrebenden Dominikanerordens. Er war Ordensoberer, Philosoph, Seelsorger und Gotteslehrer und wirkte an verschiedenen Orten Europas. 1293 und 1302 wurde er nach Paris an die damals bedeutendste Universität des Abendlandes berufen und lehrte am Lehrstuhl der Dominikaner mit dem Anspruch, „die Lehren des heiligen christlichen Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der Vernunftgründe der Philosophen auszulegen.“ (Ruh, 1985, S. 75) Der Nachwelt gilt Eckhart weniger als Philosoph denn als Mystiker, und das, obwohl er nie von ekstatischen Erlebnissen berichtete oder sich auf Visionen berief. Nimmt man eine Sammlung Eckharts deutscher Predigten zur Hand, so beeindruckt einerseits seine bildreich-kraftvolle Sprache, andererseits erscheint manches Ausgesagte als rätselhaft und unverständlich. Dass er es seinen Zuhörern nicht immer leicht machte, war Meister Eckhart bewusst: „Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz deswegen nicht. Denn so lange der Mensch nicht dieser Wahrheit gleich ist, so lange wird er diese Rede nicht verstehen; denn dies ist eine unverhüllte Wahrheit, die da ohne Vermittelndes aus dem Herzen Gottes gekommen ist.“ (Predigt 52) Zwischen Eckhart und uns liegen sieben Jahrhunderte, dennoch mutet sein Denken modern an. Insbesondere fasziniert die Nähe, die Eckhart zwischen Gott und uns Menschen herstellt. 

Eckharts Gottesverständnis 

Eckharts Denken hat seinen Ausgangspunkt nicht in der mannigfaltigen, raum-zeitlichen Welt, sondern für ihn ist der Dreh- und Angelpunkt der überzeitlich-geistige eine und einfaltige Gott – der dreifaltige ist bei Eckhart sekundär. Dieser nicht definierbare und nicht bestimmbare Gott existiert als der namenlose „Ich-bin-der-ich-bin“-Gott in völliger Unabhängigkeit und Unerkennbarkeit für sich im Verborgenen. Sein Kennzeichen ist die Ununterschiedenheit: „Gottes Gottheit liegt daran, dass er von allen Dingen ungetrennt ist.“ (Predigt 77) Über diesen „deus absconditus“, den verborgenen Gott, sagt Meister Eckhart:

„Vernunft ist der Tempel Gottes. Nirgends wohnt Gott eigentlicher, als in seinem Tempel, in der Vernunft, wie jener andere Meister sagte: Gott sei eine Vernunft, die da lebt im Erkennen einzig ihrer selbst, nur in sich selbst verharrend dort, wo ihn nie etwas berührt hat; denn da ist er allein in seiner Stille. Gott erkennt im Erkennen seiner selbst sich selbst in sich selbst.“
(Eckhart, zit. nach Jung, 2010, S. 115)


„Jener andere Meister“, das ist einer der nicht-christlichen Autoren des vermutlich aus dem 12. Jahrhundert stammenden „Buch der 24 Philosophen“ (vgl. Flasch 2010, S.176), auf das sich Eckhart immer wieder bezieht. Spruch 20 - des anderen Meisters - lautet: „Gott ist das einzige Wesen, dessen Leben in seiner Selbsterkenntnis besteht". Während sich menschliche Selbsterkenntnis vielfältigen Kontakten mit anderen Menschen und Erfahrungen mit und in der Welt verdankt, besteht Gottes Autarkie darin, „sein erfülltes Leben einzig in der Erkenntnis seiner selbst zu führen. Darin hat, darin ist er alle Weltinhalte. Aber er ist sie auf seine, auf intellektuelle Weise.“ (Flasch, 2017, S. 25)

Die Gottheit allerdings verbleibt nicht in beziehungsloser Abgeschiedenheit, sondern quillt über in eine „creatio continua“, eine sich ununterbrochen fortsetzende Schöpfung.
„Gott wird (‚Gott‘), wo alle Kreaturen Gott aussprechen: da wird ,Gott'. Als ich (noch) im Grunde, im Boden, im Strom und Quell der Gottheit stand, da fragte mich niemand, wohin ich wollte oder was ich täte: da war niemand, der mich gefragt hätte. Als ich (aber) ausfloss, da sprachen alle Kreaturen: ‚Gott'!“ (Predigt 109)

Im Zentrum dieses Zitates steht die wichtige Eckhart’sche Unterscheidung von Gott und Gottheit. Der Quellgrund ist die Gottheit, von der Eckhart metaphorisch als Stille, Einöde oder Wüste spricht. Im Ausfließen oder Überfließen des Lebensquells wird die Gottheit zum ‚Wort Gottes‘ – Johannes: „Am Anfang war das Wort“ -, das sich mitteilt und sich als Schöpfergott in ein Beziehungs- und Entwicklungsgeschehen hineinbegibt.

„So wahr der Vater in seiner einfaltigen Natur seinen Sohn [...] gebiert, so wahr gebiert er ihn im Innigsten des Geistes, und dies ist die innere Welt. Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Wer in diesen Grund je für einen Augenblick hineinschaute, diesem Menschen sind tausend Mark roten, geprägten Goldes wie ein falscher Heller.“ (Predigt 5b)

Im vorstehenden Zitat taucht das Eckhart’sche Schlüsselwort „Gebären“ auf, das wie die gleichbedeutende Metapher „Zeugung“ eine Hervorbringung meint (generatio). Das große Glaubensbekenntnis benennt Jesus Christus als Gottes eingeborenen Sohn, der gezeugt und nicht geschaffen worden sei. Während das Schaffen nach dem Muster des handwerklichen Herstellens erfolgt, vollzieht sich das Gebären gemäß dem Vorgang des sich ausbreitenden Lichtes oder so, wie sich eine Art über Zeugung und Geburt fortpflanzt. In die Ausfaltung der Gottheit zum dreieinigen Gott ist der Mensch von Anfang an mit hineingenommen. Denn für Eckhart beschränkt sich die Geburt Gottes nicht auf das einmalige Ereignis in Bethlehem, sondern Gottesgeburt kann sich im Grund der Seele eines jeden Menschen ereignen. 

„Es ist Gott wertvoller, dass er geistigerweise geboren werde von einer jeglichen Jungfrau, oder von einer jeglichen guten Seele, denn dass er von Maria leiblich geboren wurde. Darunter ist zu verstehen, dass wir ein einziger Sohn sind, den der Vater ewiglich geboren hat. Als der Vater alle Geschöpfe gebar, da gebar er mich, und ich floss aus mit allen Kreaturen und blieb dennoch drinnen im Vater.“ (Predigt 22) 

Eckharts weiselose Gottheit unterscheidet sich von nichts und hat daher keinerlei Gegenüber. Sie ist als Anfang und Ende, Sein und Einheit, Gerechtigkeit und Weisheit allumfassend. Erst mit der Schöpfung wird die Gottheit zu Gott, der sich durch seine Menschwerdung offenbart und der Menschheit durch Jesus Christus die frohe Botschaft übermittelt. Das singuläre Weihnachtsereignis steht für die bleibende Gegenwart Gottes als fortzeugendes Wort, das dem Weltgeschehen Sinn gibt und jedem Menschen im verborgenen Seelenfunken nah ist. Alles, was Gott tut, zielt darauf ab, „dass Gott geboren werde in der Seele, und die Seele in Gott geboren werde." (Predigt 38)

Die zwei Naturen des Menschen

Der Mensch ist sowohl leibliches wie auch geistiges Wesen. Als Geschöpf Gottes reiht er sich in die beseelte Welt ein. Zu der Zeit, als Meister Eckhart lebte, war Aristoteles die zentrale philosophische Bezugsgröße. Dieser ordnete den Pflanzen eine vegetative, den Tieren eine animalische und dem Menschen eine vernünftige Seele zu. Auf den unteren Seelenstufen aufbauend ist für den Menschen das vernunftgeleitete Denken charakteristisch, das sich im menschlichen Geist zum Denken des Denkens aufschwingen kann und damit auf Göttliches verweist.
Vegetatives und animalisches sowie das intellektuelle Seelenvermögen dienen der Entwicklung und Selbstverwirklichung des äußeren Menschen. Dieser ist ein geschaffenes Wesen, das körperlich ist und über fünf Sinne verfügt, in einer vielgestaltigen Welt lebt und der Zeitlichkeit unterworfen ist. (vgl. Predigt 13) Zum inneren Menschen kann das Individuum gelangen, indem es sich bewusst nach innen wendet und von nach außen gerichteten Sinnesaktivitäten Abstand nimmt. Modern würde man diese Vorgehensweise ›sensorische Deprivation‹ nennen (vgl. Achtner, 2015, S. 97), Eckhart spricht von „Ledig-Sein“ des Gemüts oder „Abgeschiedenheit“ als Loslösung von äußeren Dingen und außengenerierten Vorstellungen und Bildern. Indem der Mensch sich bewusst den Außenreizen entzieht, schafft er innerlich Raum „und dann kann Gott eintreten mit seinem Licht, und er bringt alles das mit sich herein, das du verlassen hast und tausendmal mehr.“ (Predigt 103) Mit dem Seelenmodell innerer Mensch/äußerer Mensch wird Eckhart der Gegebenheit gerecht, „dass die Seele inmitten zwischen dem Einen und dem Zweien geschaffen ist. Das Eine ist die Ewigkeit, die sich allzeit allein hält und einförmig ist. Die Zwei hingegen, dies ist die Zeit, die sich wandelt und vermannigfaltigt.“ (Predigt 32)
Eine andere - auf Augustinus zurückgehende - Metapher für die Doppelstruktur der menschlichen Seele ist die von innerem und äußerem Auge der Seele. „Das innere Auge der Seele ist jenes, das in das Sein schaut und sein Sein ohne irgendwelche Vermittlung von Gott empfängt. … Das äußere Auge der Seele ist jenes, das da allen Kreaturen zugewendet ist und diese in bildhafter Weise und in der Weise der Kräfte wahrnimmt. Der Mensch, welcher nun in sich selbst gekehrt wird, so dass er Gott nach seinem eigenen Geschmack und in seinem eigenen Grund erkennt, ein solcher Mensch ist frei geworden von allen geschaffenen Dingen. … In einen solchen Menschen kommt Gott nicht, da ist er wesenhaft.“ (Predigt 10)

Nach Eckhart ist Gott schon immer im Menschen gegenwärtig. Bereits Cicero und Seneca lehrten: „Keine vernunftbegabte Seele ist ohne Gott; der Same Gottes liegt in uns.“ (Das Buch der göttlichen Tröstung, 99) Und bei Origenes (* 185; † um 254) findet Eckhart folgenden Gedankengang: „Das Bild Gottes, der Sohn Gottes, liegt im Grund der Seele wie ein lebendiger Brunnen. Wirft aber jemand Erde – damit meine ich: irdisches Verlangen – darauf, dann hindert und verdeckt es ihn, so dass man ihn nicht mehr erkennt und nichts bemerkt. Trotzdem bleibt er in sich lebendig.“ (a.a.O. 101) Hier ist bereits das entworfen, was Eckhart als seine zentrale Lehre der Gottesgeburt in der „obersten Vernunft des Seelengrundes“, in der „Spitze der Seele“ oder im „Seelenfunken“ ausbuchstabiert. 

So wie Eckharts Gott doppelgesichtig ist, so ist auch im Bereich der menschlichen Seele zu unterscheiden zwischen der geschaffenen Seele und ihren Seelenvermögen (Aristoteles) – dazu zählen vegetative Funktionen, Begehren, Wahrnehmung, Gedächtnis, Wille und Denken - und dem ungeschaffenen, aber geborenen Seelenfunken, verborgen im Innersten der Seele. Die geschaffene Seele ist verwoben mit der Welt, der Zeitlichkeit unterworfen und hat keinen Eigenstand, weil ihr Sein an der Gegenwart Gottes hängt. Im ort-, zeit- und namenlosen Seelenfunken dagegen steht der Mensch in Seinseinheit mit Gott. „Darum ist die ganze Heilige Schrift geschrieben, darum hat Gott die Welt erschaffen und alle Engelsnatur, dass Gott geboren werde in der Seele, und die Seele in Gott geboren werde." (Predigt 38)

Das aus der Doppelnatur des Menschen resultierende Verhältnis des Menschen zu Gott versinnbildlicht Eckhart anhand des Bibelspruchs Jesus Sirach 24,21:
„Wer von mir zehrt, hungert weiter, (und wer von mir trinkt, dürstet weiter).“
(Sturlese, 2018, 207)
Jedes Seiende – so auch der Mensch - zehrt von Gott als dem Sein; es dürstet aber jedes Seiende nach dem Sein selbst. (vgl. a.a.O., Nr. 47) Wäre der Mensch ein rein weltimmanentes Wesen, so wäre er auf das Endliche hingeordnet, und es wäre ihm in dieser Konstituiertheit möglich, seinen Hunger und Durst zu stillen. (vgl. a.a.O., Nr. 42) Nachdem das Seiende aber letztlich ein Vom-Anderen-Sein ist, also von Gott im Dasein gehalten wird, hat es seine Existenz und seine Vollendungsmöglichkeit nur analog, das heißt uneigentlich und von außen. (vgl. a.a.O., Nr. 52-53) Gottes Geschöpfe sind aus sich selbst nichts und zehren fortwährend von demjenigen, der sie geschaffen hat. Gleichzeitig hungern sie weiter, weil sie im Zehren sich gleichzeitig nach Gott verzehren. Die in der Endlichkeit nie zur Ruhe kommende Sehnsucht nach Vollendung in der verborgenen Einheit Gottes ist selbst die Zehrung/Nahrung, die aus dem Sich-Verzehren entspringt. Denn das Sich-Verzehren nach dem Sich-Verzehren stellt ein auf Erfüllung ausgerichtetes Streben dar, das „dem un-endlichen Gott am nächsten kommt.“ (Grotz 2000, 53)

Die Eckhart’sche Sichtweise der Gott-Mensch-Beziehung

Im Buch Genesis spricht Gott. „Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich.“ Luther übersetzt: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.“ Doch wie hat man sich diese Gottebenbildlichkeit genau vorzustellen?

Die Bestimmung und gleichzeitig Nicht-Bestimmung der Gottheit ist deren Ununterschiedenheit. Daraus leitet sich ab: „Diejenigen, die nichts gleich sind, einzig diese sind Gott gleich. Göttliches Wesen ist nichts gleich, in ihm gibt es weder Bild noch Form.“ (Predigt 6) Es ist das Höchste in der Seele, die menschliche Vernunft, die den Menschen gottförmig macht. Denn der Intellekt ist weder Dieses-da noch Jenes-da. Er kann gewissermaßen alles sein und von daher war der Mensch schon für die Griechen ein Mikrokosmos. Mit dem Intellekt als Licht in uns haben wir Anteil am obersten göttlichen Licht.

Nach der Auffassung des Thomas von Aquin hat die menschliche Seelensubstanz nur abgeschwächt an der göttlichen Substanz teil. Dementsprechend „verhält sich die Schöpfung als unvollkommene Nachahmung (imitatio Dei deficiens) zu Gott.“ (Winkler, S. 40) Eckharts Konzept ist ein anderes. Gemäß seiner Unterscheidung von Gott und Gottheit ist Gott auf zweierlei Weise im gewordenen Menschen. Die geschaffene Vernunft - als dem äußeren Menschen zukommendes Seelenvermögen - steht zu Gott in einem analogen Verhältnis. Der innere Mensch hingegen, insofern er sich Gott anverwandelt hat, erfährt im ungeschaffenen, aber geborenen Seelengrund unmittelbar - in wechselseitiger Bezogenheit - Gottes Nähe. (Univozität)

Wie das zu verstehen ist, erschließt sich - nicht nur dem mittelalterlichen Menschen - in einem von Eckhart herangezogenen Gleichnis. Die Kreatur verhält sich zu Gott wie das Licht zur strahlenden Sonne. „Weicht das Licht, so ist Finsternis: das ‚Nichts‘ des Geschaffenen.“ (Ruh, 1985, S.85) Anders ist es mit der beispielsweise im Mauerstein gespeicherten Wärme. Sie ist auch nach Sonnenuntergang noch vorhanden. Das Licht ist quasi Leihgabe, die Wärme wird zum Eigentum. Die Wärme versinnbildlicht den Gottessohn – von Natur gleich dem Vater -, der per se über das göttliche Licht verfügt. „Sofern aber die menschliche Seele in ihrem ‘Innersten‘ ‚Sohn‘ ist, nämlich durch die Gottesgeburt in der Seele, ist auch das göttliche Licht ihr Licht.“ (a.a.O.)

Der Rede vom „‘Nichts‘ des Geschaffenen“ liegt Eckharts Sichtweise zugrunde, gemäß der es außerhalb von Gott kein eigenständiges Sein gibt. Wenn die Schöpfung keinen Selbststand hat, so „muss das Sein der Schöpfung offenbar als ein In-sein in Gott gedacht werden.“ (Grotz 2009, 82) Das ist allerdings nicht so zu verstehen, dass der Mensch damit wie Gott oder zu Gott wird, sondern es ist so, dass der Kreatur dadurch Sein - von Gott geliehenes Sein - zukommt, dass sie auf Gott relational hingeordnet ist. (vgl. Grotz 2009, 84f, Anm. 220) „Gott selbst ist als Ganzer in allen Dingen, und zwar so, dass er als Ganzer außerhalb ihrer ist.“ (Eckhart, zit. nach Grotz 2000, 50)

In der Predigt ‚Vom edlen Menschen‘ zeigt Eckhart einen sechsstufigen Pfad zum inneren und neuen Menschen auf. Am Zielpunkt dieses Entwicklungsweges ist der Mensch „entbildet von sich und überbildet von Gottes Ewigkeit. Er hat das vollkommene Vergessen des vergehenden zeitlichen Lebens erreicht. Er ist hinaufgezogen und hinüberverwandelt in ein göttliches Bild. Er ist Kind Gottes geworden. … Hier ist ewige Ruhe und Glück. Denn das letzte Ziel des inneren Menschen, des neuen Menschen ist das ewige Leben.“ (Das Buch der göttlichen Tröstung, 101)

„Gibt es denn etwas Edleres, als den, der geboren wird aus dem Höchsten und Besten der Schöpfung und auch noch aus dem innersten Grund der göttlichen Natur und ihrer Einöde? ‚Ich führe‘, sagt unser Herr im Propheten Osee, ‚ich führe die edle Seele in die Einöde. Und dort spreche ich in ihr Herz‘: Das Eine mit dem Einen, das Eine vom Einen, das Eine im Einen und im Einen eins auf ewig. Amen.“ (a.a.O., 115)

Was an Meister Eckhart überzeugt

Meister Eckhart verabschiedet sich von einem Gotteskonzept, bei dem der Mensch Gott gegenübersteht. Da es nichts gibt, das außerhalb Gottes wäre, kann die Schöpfung und mit ihr der Mensch nur als Gottes Hervorbringung aus sich selbst begriffen werden, die von Anfang an auf eine Rückkehr in den verborgenen Quellgrund der seit Ewigkeit existierenden Gottheit angelegt ist.



Literatur

- Achtner, Wolfgang: Eckharts Bildkritik – vom Bild zur Bildlosigkeit. In: Dietl/Mieth (Hg.). Meister-Eckhart-Jahrbuch. Bd. 9.  Kohlhammer 2015, S. 87 - 117
- Flasch, Kurt: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. Beck 2010
- Flasch, Kurt: Predigt 9 'Quasi stella matutina'. In: Steer / Sturlese (Hg.). Lectura Eckhardi IV: Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. 2017, S. 1 – 12
- Grotz, Stephan: Vom Umgang mit Tautologien. Martin Heidegger und Roman Jakobson. Meiner: Hamburg 2000
- Grotz, Stephan: Negation des Absoluten. Meister Eckhart, Cusanus, Hegel. Hamburg 2009
- Jung, Christian: Meister Eckharts philosophische Mystik. Tectum Wissenschaftsverlag 2010
- Meister Eckhart. Das Buch der göttlichen Tröstung. Beck 2007
- Meister Eckhart. Deutsche Predigten. Übersetzt von Louise Gnädiger. Manesse 1999
- Ruh, Kurt: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker. Beck 1985
- Sturlese, Loris (Hg.): Meister Eckhart. Studienausgabe der Lateinischen Werke. Band 2: Expositio libri Exodi, Sermones et lectiones super Ecclesiastici cap. 24. Zweite Vorlesung Nr. 42 – 61. Kohlhammer: 2018
- Winkler, Norbert: Meister Eckhart zur Einführung. Junius 1997